
Sorten erhalten. Vielfalt vermehren. Gemüse genießen.
Ein Sachbuch zum Thema Samengärtnerei zu erhalten war über viele Jahre schwierig. Nach 1946 galt dies als Spezialwissen weniger ZüchterInnen und es war die Erstauflage dieses Werks, das 2003 den Bann brach. Die Resonanz auf das „Handbuch Samengärtnerei“ war derartig, dass die Herausgeber ARCHE NOAH (Österreich) und ProSpecieRara (Schweiz) vom Beginn einer Renaissance der Samengärtnerei sprechen. Seither wurde das Buch in mehrere Sprachen übersetzt (englisch, französisch, ungarisch) und es hat wesentlich zum Selbstbewusstsein zahlreicher Gärtnerinnen und Gärtner beigetragen, die Erhaltung und Vermehrung von Saatgut wieder selbst in die eigenen Hände zu nehmen.
Nun erscheint 21 Jahre später eine gänzlich überarbeitete Neuauflage dieses bahnbrechenden Werks, in dem die Autorin Andrea Heistinger das Erfahrungswissen von über 30 Samengärtnerinnen und -gärtnern bündelt. Dabei sind die Grundstruktur des Buches sowie die Handlungsanleitungen im Kern geblieben, da sie nicht veraltet sind. Die Aktualisierung betrifft in erster Linie die Vermehrungstechniken, die sich im Lauf der Zeit durch die gewonnenen Erfahrungen aus dem praktischen Anbau erweitert haben.
Ein Novum in der neuen Auflage ist die Kategorisierung der „Purpose-driven“-Samengärtnerei, also die Frage der Zweckdienlichkeit. Über ein Symbol bei der jeweiligen Kulturart im lexikalischen Teil, lässt sich die benötigte Anzahl der Samenträgerpflanzen auf einen Blick erkennen – unterschiedlich für die Sortenerhaltung im kleinen Rahmen (für einen selbst, Tauschnetzwerke, Nachbarschaftshilfe) oder für die langfristige Sortenerhaltung (sowie die Verbesserung von Sorten oder die Neuzüchtung). Leider ist die in der Legende angegebene Quadratmeterzahl, die sich in dem Symbol unterhalb der Anzahl der Samenträgerpflanzen befinden sollte, später im lexikalischen Teil nicht mehr auffindbar. Das wäre gerade für HausgärtnerInnen interessant gewesen.
Bei der Neuauflage wurde außerdem genauer auf Auslesekriterien eingegangen, mitsamt genauen Anleitungen für die jeweiligen Auslesetechniken. Ferner sind weitere Tipps aus dem SamengärtnerInnen-Netzwerk eingeflossen, welche die Tipps aus historischer Samenbauliteratur ersetzt haben.
Gänzlich neu ist das Kapitel „Samengärtnerei und Klimakrise“. Hier wird die Notwendigkeit des regelmäßigen Anbaus der gleichen samenfesten Sorte an demselben Standort betont, um von der Anpassungsfähigkeit von Sorten an sich ändernde Bedingungen profitieren zu können. Prognostizierte Veränderungen werden kurz dargestellt, sowie jene Kulturtechniken, die in den letzten Jahren an Bedeutung gewonnen haben. Eine tabellarische Übersicht mit den klimatischen Veränderungen einerseits und den Konsequenzen in der Samengärtnerei andererseits, sowie der Hinweis auf Gemüseanbau in Dammkultur, beschließen diesen neuen Abschnitt im Buch.
Nach dem „Kleinen Einmaleins des Gemüsesamenbaus“, reich bestückt mit fotografischen Anleitungsrreihen und bildhaften Darstellungen, umfassen mit fast 400 Seiten die anschließenden Vermehrungsanleitungen der einzelnen Kulturarten den größten Teil des Buches.
Es ist zu merken, dass viel Kopfarbeit in dem Buch steckt. Manchmal vielleicht etwas zu verkopft, so erschien mir die Einteilung in 3 Kategorien bei 5 verschiedenen Zweckdienlichkeiten des Samenanbaus („A, W, LE, V, Z“ Seite 50ff), die sich im lexikalischen Teil dann jedoch in lediglich zwei Symbolen widerspiegeln („Sortenerhaltung im kleinen Rahmen“/ „langfristige Sortenerhaltung“) etwas irritierend. Dieser Umstand verblasst jedoch neben der merklichen Tatsache, dass mit noch viel mehr Herzblut an dem Buch gearbeitet wurde. Deutlich wird dies etwa bei der erläuternden Darstellung von Hybridsaatgut, wo die Empathie der Autorin für das (geplagte) Lebewesen Pflanze zwischen den Zeilen fühlbar wird. Bereits im Vorwort bringt Andrea Heistinger dies mit einem Zitat von Jack Harlan (Pionier systematischer Sammlung und Konservierung pflanzlicher Vielfalt) zum Ausdruck: „Wenn die Vielfalt erhalten bleiben soll, dann werde sie letzten Endes von Amateuren gerettet werden müssen: Von Menschen, die ihre Saaten lieben.“
Es ist ein starkes, wunder-volles und praktisch nützliches Werk. Es sollte in keiner an Ernährungssouveränität interessierten Gemeinde bzw. Gärtnerei fehlen.
Quelle
Löwenzahn Verlag
https://www.loewenzahn.at/produkt/2999/handbuch-samengaertnerei-2/